Jörg Borgerding

Start

 

Lesungen - Termine

 

Videos und Fotos

 

Neu: Jenseits von Paslam

(3.Teil der Trilogie)

 

Nächste Abfahrt Paslam

(2.Teil der Trilogie)

 

Paslam, Bayern

(1.Teil der Trilogie)

 

Der Drippendeller

 

NEU: ebooks

 

Gedichte

 

Geschichten

 

Geschichten für Kinder

 

Veröffentlichungen

 

Impressum/Kontakt

 

Über mich

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

iookl

Berühmte Schachpartien: Prczybylski - Dr.Bulfinger, Wardböhmen 1991

Bertram

Verhinderte Liebeserklärung

Gesundheit!

Eine Verwandlung

Immer da

Schmutziger Sex

 

iookl

Gutemiene kann schreiben!
Bitte? Nein - keine Gedichte, nichts Schöngeistiges. Sie kann einfache, kurze Mitteilungen schreiben. Ach - vielleicht sollte ich zunächst erklären: Gutemiene ist eine alte Katzendame. Wie alt sie genau ist, weiß ich nicht. Gutemiene ist uns zugelaufen, als sie etwa vier oder fünf Jahre alt war. Und das liegt gut zehn Jahre zurück. Sie ist also selbst für eine Katze schon recht alt. Umso erstaunlicher, dass sie auf ihre alten Tage mit dem Schreiben begonnen hat.

Mein Laserdrucker, den ich - ihn vor Staub zu schützen - mit einem dicken, doppelt und dreifach gefalteten Leinentuch abdecke, ist Gutemienes Lieblingsschlafplatz. Darauf liegt sie oft und gerne und döst vor sich hin. Manchmal blickt sie kurz auf, wirft mir einen Blick zu und schläft sofort wieder ein. Beneidenswert, denke ich dann, und: Katze müsste man sein!

Der Drucker steht in einem Regal neben meinem Computer. So habe ich beim Schreiben oder Arbeiten schnell die Hand am Netzschalter, wenn es etwas zu Drucken gibt. Was natürlich nicht geht, wenn Gutemiene darauf schläft. Sie des Druckens wegen aus dem Schlaf zu reißen: undenkbar - ist sie doch ein wenig empfindlich!

Um auf ihren Schlafplatz zu gelangen, springt sie vom Fußboden auf meinen Stuhl, beziehungsweise auf meinen Schoß, wenn ich auf dem Stuhl sitze. Von dort über den kleinen Rolltisch, auf dem sich Monitor, Tastatur und Maus befinden, zum Drucker. Kurz ein wenig Katzenwäsche - eingedreht und eingeschlafen. Und dabei hat sie es immer vermieden, die Tastatur zu betreten, was nicht verwunderlich ist, sind doch die Abstände zwischen den Tasten gefahrenbergende Klüfte für nicht mehr ganz junge Katzenpfoten.

So war das, bis vor einigen Wochen.
An jenem Tag, ich quälte mich seit einigen Stunden mit einem Gedicht herum, wobei mir Gutemiene zwischendurch mitleidig zusah, erhob sie sich plötzlich vom Drucker, schlich sich auf den Rolltisch und setzte die rechte Vorderpfote gezielt auf den zentralen Punkt zwischen vier Tasten. Meine begonnene Verszeile wurde nun fortgesetzt durch das von Gutemiene geschriebene Wort: iookl.

iookl - was will mir meine Katze damit sagen? fragte ich mich.
Dass sie mir etwas sagen wollte, stand für mich außer Zweifel.
Jahrelang tagtäglich, Abend für Abend vom Schlafplatz aus einem Dichter bei der Arbeit zusehen - das muss zwangsläufig irgendwann auch
auf eine Katze abfärben. Katzen sind schlau - warum sollten sie nicht in der Lage sein, ihren Menschen einfache Mitteilungen in Katzensprache zu schreiben?

Schon hatte sie über meinen Schoß den Weg zur Zimmertür gefunden. Abwechselnd mich und die Tür ansehend, signalisierte sie mir: "Mach die Tür auf - ich will raus!". Sollte das die Bedeutung von "iookl" sein? Wohl kaum, die Gestenkommunikation funktionierte seit Jahren problemlos, warum sollte Mienchen, so nennen wir sie, sich die Mühe machen, mir diesen Wunsch, besser gesagt: Befehl, nun schriftlich mitzuteilen? Ich öffnete die Tür und folgte meiner alten Katze auf ihrem Weg durch unser Haus. Den Flur entlang bis in die Küche lief sie, ohne nach links und rechts zu sehen. Dort stürzte sie sich förmlich auf den stets gut gefüllten Fressnapf und begann, laut schmatzend die edlen Schlachtereiabfälle zu fressen. Da war mir klar: "iookl" bedeutet in der Katzensprache soviel, wie: "Hunger - essenwollen - mach 'ne Dose auf!".

Wenige Tage später.
Das Gedicht war fertig, eine Kurzgeschichte im Entstehen. Ich hatte schon gut zwei Stunden daran geschrieben und wurde ein wenig müde. So entschloss ich mich zu einer kurzen, entspannenden Pause: eine Patience und dazu etwas Musik. Ich schaltete das Radio ein und es erklang ein Stück der Bloodhound Gang. Nach einem kurzen Intro auf der akustischen Gitarre folgte ein Stakkato auf elektrischen und Bassgitarren, begleitet von einem wummernden Schlagzeug und der sonoren Stimme des Sängers. Gutemiene, die fest auf dem Drucker zwischen den Lautsprechern geschlafen hatte, fuhr aus dem Schlaf empor, sprang auf den Rolltisch, drückte mit ihrer rechten Vorderpfote die Tastenfolge: erfder und sah mich vorwurfsvoll an. Als ich nicht reagierte, wiederholte sie ihre Eingabe, eindringlicher, wie mir schien: errffdeer.
Sollte die Musik, dieser heftige Beat, sie gestört haben? Ein Druck auf den Netzschalter des Radios: die Musik verstummte. Gutemiene gab ein leises "yiouw" von sich, sprang zurück auf den Drucker und war bald darauf fest eingeschlafen. In ein kleines Oktavheft, das ich wenige Tage zuvor aus gutem Grund gekauft hatte, notierte ich in die Zeile unter iookl: erfder - mach die Musik aus!

Wenig später am selben Tag: Mit leisem Quietschen öffnete sich die nur angelehnte Zimmertür, und ein trat Diesel, unser junger Kater. Gutemiene kann Diesel nicht ausstehen. Sie kann überhaupt keine anderen Katzen leiden, auch Menschen gegenüber ist sie sehr kühl. Diesel hockte sich auf die Hinterpfoten und blickte an meinem Monitor vorbei auf Mienchen. Die fauchte ihn von ihrer erhoben Position aus an, streckte sich vom Drucker aus so weit vor, dass sie die Letternfolge
üpöüüä
schreiben konnte. Da mir Gutemienes Abneigung gegenüber Diesel nicht neu war, ahnte ich sofort, wozu sie mich mit ihrem Wort bewegen wollte. Sanft setzte ich Diesel vor der Zimmertür auf dem Flur ab, nicht ohne ihn kurz und tröstend zu kraulen, schloss die Tür und setzte mich an meinen Arbeitsplatz. Gutemiene sah mich an, zufrieden. In das Oktavheft notierte ich:
üpöüüa - schmeiß den dämlichen Kater raus!

In wenigen Wochen sammelten sich etliche Katzenbefehle in dem Notizheft. Immer schneller begriff ich, immer weniger Überlegungen waren erforderlich, sie zu dechiffrieren. Auf jeden Befehl und den Anlass für Gutemiene, ihn zu schreiben, einzugehen, würde den geschätzten Leser langweilen. Daher nur kurz meine Notizen, die - so denke ich - auf dem besten Wege sind, zum unentbehrlichen Wörterbuch für den Katzenhalter zu werden:

asyyxs - dreh' die Heizung höher/mir ist kalt

jiuku - dein Bart kratzt

oiklii - mach Feierabend, lass mich endlich alleine

huzjhu - kraul mich am Bauch

huzjhi - kraul mich im Nacken

aawsaq - ich muss mal (raus in den Garten)

ooiiioo - sag deiner Frau, sie soll nicht so laut singen

tzhhz - hör auf zu lachen

Bald hatte ich das System in den Buchstabenfolgen, die Mienchens Aufforderungen bildeten, entdeckt. Es war gar nicht so schwer. Um sicherzugehen, dass ich ihre Sprache verstand, versuchte ich heute den umgekehrten Weg. Wenn ich ihre Sprache wirklich verstehe, so dachte ich mir, müsste die Katze auf einen von mir in ihrer Sprache geschriebenen Befehl ebenso gehorchen, wie andersherum.
Als sie vorhin in mein Zimmer schlüpfte, nahm ich Gutemiene behutsam mit der linken Hand auf, setzte sie auf meine Oberschenkel, so dass sie auf den Monitor sehen konnte und tippte das Wort:

ölopo.

Es funktionierte!
Eine Sensation!
Gutemiene las und verstand!
Unverzüglich folgte sie meiner in Katzensprache geschriebenen Aufforderung, sich hinzulegen und zu schlafen!

Berühmte Schachpartien: Prczybylski - Dr.Bulfinger, Wardböhmen 1991

Der Morgen sah die Nacht schwinden, als Dr. Julius "Bärchengucker" Bulfinger, Gynäkologe und Geburtshelfer, seine Stammtischfreunde im Wardlinger Pils-Stübchen zu einer Partie Schach forderte. Man sei schon müde, bekam er zu hören, auch müsse der Wirt - zudem er an Magendarm leide - bald zu Bett, und: Die Frau schimpfe arg, wenn es noch später würde. Nichts davon ließ der muntere Frauenarzt gelten, nicht einmal den Einwand des Jochen Prcybilsky - aus längst vergessenen Gründen nur "ky" genannt - niemand von ihnen beherrsche die Regeln des edlen Spieles zur Genüge, noch seien Brett oder Figuren zur Hand! Die Regeln kriege man schon zusammen und das Spielfeld sei schnell gefertigt, beschied der Medicus, forderte den ky zum Duelle, hatte auch schon einen schwarzen Edding ("Den braucht's beim Sectio caesarea , das Schnittmuster zu markieren, auch beim Dammschnitt ein unverzichtbar' Instrument!") aus seinem stets mit sich geführten Geburtshelferkoffer entnommen und begann, unsicheren Fingers und den Protest des schwerzüngigen und flatulierenden Wirtes nicht achtend, horizontale und vertikale Linien aufs Holz des Tisches (Es mag Ulme - die gute heimische Rüster - gewesen sein, allerdings ist sich der Chronist dessen nicht sicher) zu zeichnen und die Hälfte der quadratähnlichen Gebilde schwarz auszupinseln. Zwei Tampons aus bereits erwähnter Tasche, einen davon flugs mit dem Filzer eingefärbt - die Damen! Als Könige zwei Schnapsgläser, eines davon gefüllt mit "Schwarzer Keiler", dem vom Wirte selbst gebrannten Doppelkorn, das andere befüllt mit weißem griechischen Likör. Kohletabletten und Aspirin aus des Doktors Tasche wurden zu Bauernschaften erklärt, vier vom Wirt herbeigeschaffte Würfel - zwei aus Ebenholz, die beiden anderen elfenbeinern - gaben die Läufer, zwei Zigarrenstumpen die dunklen, zwei Hälften einer Overstolz die hellen Rössel. Auf die trägen Türme sei "geschissen", die "reißen eh nix raus, stehen ständig im Wege herum!", so noch der Arzt auf entsprechende Frage des Kurt Wallburg, welcher war und ist der lutherische Pastor für Wardlingen - und das Spiel begann!

"Schnipp-Schnapp!", rief der Doktor, erklärte noch, die "Weißen sind mir!" und hatte - schwups!" - den schwarzen Keiler des Gegners gekippt, dass es ihn, den "Bärchengucker", nur so schüttelte und er den ky darauf hinwies, dass dieser, so ganz ohne König, nun einen schweren Stand hätte. Besagter ky, von Natur aus eher nervös und ängstlich, bekam vor Aufregung starkes Nasenbluten, das der Doktor fachgerecht - Plopp! Plopp! - mit den Damen unterband. "Gardez!" , rief noch der Pastor, sich dumpf seiner längst vergessenen Anfänge im Schach erinnernd, erkannte aber - kaum war's ausgesprochen - dass diese Warnung zu spät kam. "Obacht auf die A7!", rief einer der Kiebitze, und ein anderer, es wird wohl der Strebinger, dieser großartige Komödiant, gewesen sein: "Immer dicht, wenn's pressiert!" Der Doktor, bereits Schweißes Perlen auf Stirn und Oberlippe, opferte einen Läufer, indem er ihn entzündete und einige tiefe Züge nahm. Plötzlich aufkommender pestilenzialischer Geruch verriet, dass dem Wirt der Magendarm in die Hosen gefahren war. Schlimmeres zu vermeiden, warf der gastritische Gastronom auf einen Schlag die Bauern des ky ein, und es bedurfte keiner großen Kennerschaft des königlichen Spieles, zu erkennen, dass diese Partie sich dem Ende neigte. ky nahm seine Läufer, würfelte eine Doppelfünf und stürzte - arg behindert von den stark durchbluteten Tampons - des Gynäkologen König in den Rachen. "Schach! Schach!", näselte Jochen. "Wohl wahr!", musste der gute Doktor eingestehen, knobelte - ein letzter Versuch, das Spiel herumzureißen - eine zwo & eins, bot dem Kontrahenten "Remis", was dieser, ein "drauf geschissen!" murmelnd, annahm. Man reichte sich die Hände und alle nahmen diverse Scheidebecher. Der Doktor verordnete sich und anderen vorbeugend die weißen Bauern - und dann war's schon an der Zeit für den Wallburg, sich auf den Weg zur Morgenandacht zu machen, der ky musste seinen Dienst am Lenkrad des 12er Busses antreten, und den Doktor ereilte der Ruf, bei der Frau Thiel wär's soweit - die Drillinge wollten nicht mehr länger warten.

Seitenanfang

Bertram

Sie öffnete die Tür und trat ein. "Aufwachen!", dröhnte ihre Stimme.
Dann roch sie es. "Verdammt!", rief sie, schritt aufs Bett zu, schlug
das Oberbett zurück. "Hab ich es mir doch gedacht! Wie ein kleines Baby!
Du bist wie ein Baby!" Sie schlug auf den kleinen Kerl ein,
links und rechts, ins Gesicht. Öffnete die Vorhänge, riss das Fenster
auf, nahm einen tiefen Zug der frühmorgendlichen Winterluft und
beschloss: "Gut - wenn du dich wie ein Baby aufführst,
kriegst du auch wieder Windeln umgebunden wie ein Baby! Und
zum Frühstück gibt’s heute kein Brot und Ei, sondern Haferbrei,
du Baby!"
"Mami …", winselte das Kerlchen.
"Deine Mami ist schon lange tot, und du bist es hoffentlich auch bald!“
Das hoffte der alte Bertram auch. Jeden Morgen, wenn er doch wieder
aufgewacht war.

Seitenanfang

Verhinderte Liebeserklärung

Ich trampte nach Paris um sie zu treffen und davon zu informieren, dass ich wahnsinnig in sie verknallt bin.
Das waren zwar damals neben mir weltweit ca. 750 Millionen Männer, aber ich war der verknallteste.
Aus der Zeitung wusste ich, in welchem Hotel sie logiert. Ich schlich mich hinein, vertat mich aber in der
Zimmernummer und fand ihren Vater vor, nackt, Zigarette rauchend, auf dem Perserteppich des Wohnzimmers seiner
Suite auf- und abgehend und Baudelaire rezitierend. Als er mich sah, trat er seine Fluppe auf dem Perserteppich
des Wohnzimmers seiner Suite aus, stürzte sich auf mich, riss mir die Kleidung vom Leib
(dabei Baudelaire rezitierend) und nahm mich - meine Versicherung, "er sei es nicht, den ich hier ... "
ignorierend - heftig auf dem Perserteppich des Wohnzimmers seiner Suite. Danach steckte er sich eine Zigarette an
und fuhr fort, Baudelaire zu rezitieren. Während ich mich anzog, fragte ich ihn, wo ich seine Tochter ... und
er brüllte mich an, niemals! würde ich! dummes Schwein! seine Tochter f*cken!, und ich! blöde! Schwuchtel!
solle mich verpissen, bevor er! mich aus dem Fenster schmeiße und von oben herab auf meine zermatschte! Leiche! schiffen würde!
Ich trampte zurück in die Heimat. Zuhause angekommen, nahm ich das das Nastassja-Poster von der Wand und hängte
eins von Marianne Rosenberg auf.

Seitenanfang

Gesundheit!

Der Arzt schickte den Strahl seiner winzigen Lampe in meinen weit geöffneten Mund. "Schonen Sie sich. Heißer Tee mit Honig, viel Saft trinken und viel schlafen, dann sind Sie bald wieder fit!" Das ist ja nichts Neues. Wenn ein Arzt erkennt, wie es um einen Patienten steht, fehlt ihm oft der Mut, den Leidenden über seinen tatsächlichen Zustand aufzuklären. Zögernd fragte ich: "Antibiotika, könnten die nicht ...?" Er hörte mir überhaupt nicht zu, murmelte nur "Schönes Wochenende" und verschwand im benachbarten Untersuchungszimmer seiner Riesenpraxis.

Am Mittwoch hatte es begonnen. Aus heiterem Himmel, einfach so. Bei der Abteilungsbesprechung. Thema des Meetings war die strategische Ausrichtung der Firma bei der Bewerbung um den Großauftrag der Sommershall AG. Kollege Wischmeier hatte gerade den von unserem Abteilungsleiter vorgetragenen, fantastischen Blondinenwitz mit einer geistreichen Zote nahezu getoppt, als ich -noch laut lachend- plötzlich niesen musste. In dem Moment dachte ich mir noch nichts. Kann ja mal passieren: Klimaanlagen, Pollenflug, Umweltverschmutzung. Aber keine drei Stunden später, ich hatte Feierabend und fuhr gerade vom Firmenparkplatz herunter: schon wieder! Ein Nieser, um ein Vielfaches heftiger als der beim Blondinenwitz. Mir schwante Fürchterliches. Ich habe einen siebten Sinn, was Katastrophen angeht.

Zuhause angekommen, fühlte ich mich schon sehr schwach. Sowohl meiner Frau als auch unseren beiden Kindern verweigerte ich den Begrüßungskuss, ich wollte sie nicht anstecken. Zum Abend aß ich nur eine Kleinigkeit. "Fehlt dir was?", fragte meine Gattin besorgt. "Ach, es ist nichts weiter", versuchte ich, sie zu beruhigen. "Aber du hast doch was, du isst sonst mehr!" Angst stand in ihren Augen geschrieben. "Nichts weiter ... eine Grippe, höchstens eine beginnende Lungenentzündung. Ich werde gleich schlafen gehen. Achte bitte gelegentlich darauf, ob ich noch atme!", bat ich sie und ging zu Bett.

Als mich der Wecker zwölf Stunden später aus meinem krankheitsbedingt sehr leichten Schlaf riss, fühlte ich mich wie gerädert. Ich schaffte es kaum, aufzustehen. Mir schwindelte. Meine Stirn schien eine Herdplatte zu sein, deren Überhitzungsschutz versagt hat. Ich suchte im Arzneischrank nach dem elektronischen Fieberthermometer. 36,2 Grad zeigte es nach der Messung an. Ich warf das Thermometer in den Mülleimer und bat meine Frau, ein neues zu kaufen. Dann fuhr ich zur Arbeit.

"Wie siehst du denn aus?", empfing mich mein Kollege. "Hör bloß auf! Die Grippe! Mir geht's sauschlecht!", keuchte ich. "Und warum bleibst du dann nicht zuhause?" "Du bist gut! Wer stellt denn die Ausfallstatistik für Kreuzig zusammen? Wer baut den TUFIP-Ablauf für's Wochenende, den das Controlling angefordert hat? Außerdem hat Uschi heute Geburtstag!"

Merkwürdigerweise schmeckte mir das Kantinenessen - Schweinefilet mit Brokkoli, Pommes Frites und einer Mousse au Chocolat - hervorragend. Auch der selbstgebackene Pflaumenkuchen, dessentwegen ich unbedingt an Kollegin Uschis nachmittäglicher Geburtstagsfeier teilnehmen wollte, mundete vorzüglich. Ich sah das als letztes Aufbäumen meines entkräfteten Körpers an. Kurz darauf musste ich schon wieder niesen. Tagsüber hatten mich die Symptome verschont, abgesehen von einem leichten Kratzen im Hals, als ich nach dem Pflaumenkuchen einen von Kollegen Rummelmann spendierten Zigarillo geraucht hatte. Spätestens da, nach diesem eindeutigen Warnsignal meines Körpes, hätte ich unverzüglich nach Hause fahren und zu Bett gehen sollen, um Schlimmeres und Schlimmstes zu verhindern. Allein: mein Verantwortungsgefühl zwang mich zurück an den Schreibtisch. Zwanzig Minuten lang, dann konnte ich nicht mehr. "Mal sehen, ob ich morgen noch komme!", deutete ich meinem Kollegen, mit dem ich das Büro teile, an. "Mann, du tust mir echt Leid!", versicherte er mir glaubhaft. "Schon grausam, so eine Grippe. Weißt du noch wie ich es hatte, vor drei Monaten? Ich dachte, mein letztes Stündlein hätte geschlagen. Die Nase lief nur noch. In einer Tour gehustet, der Kreislauf spielte verrückt. Normalerweise hätte ich damals mindestens zwei Wochen lang das Bett hüten müssen. Aber ich musste ja damals die neue BETA-Version installieren, wer sonst...?" Schwätzer. Er hatte keinen blassen Schimmer, wie es um mich stand und nervte mich mit seinen Wehwehchen.

Als ich nach Hause kam, fragte ich sofort nach dem neuen Thermometer. "Ich hab' keins gekauft, das elektronische ist doch erst ein halbes Jahr alt, da ist noch Garantie drauf!"
"Vielleicht habe ich es heute morgen einfach falsch bedient!", überlegte ich. Ein erneutes Messen zeigte, dass dem tatsächlich so gewesen sein musste. Diesmal war das Ergebnis eindeutig und entsprach meinem subjektiven Körperempfinden. Fieber. Kein Zweifel mehr daran. 36,7 Grad Fieber. Ich suchte noch auf den Internetseiten der Nachrichtenagenturen nach Berichten über eine Grippeepidemie. Dass ich nicht den kleinsten Hinweis darauf fand, zeigte mir eindeutig, wie schlimm es um mich stand: ich litt an einer ganz seltenen Form der Influenza, für die es logischerweise keine Medikamente und keine Therapie gab. Ohne Abendessen ging ich zu Bett.

Heute früh ging es mir noch schlechter. Kein Wunder, hatte ich doch einen bewusstlosigkeitsähnlichen, dreizehnstündigen Schlaf hinter mir. Ich sah im Telefonbuch nach den Sprechzeiten meines Arztes: Freitag 14-18 Uhr. Nach einem kleinen Frühstück: einige Scheiben Toast mit Wurst und< Käse, etwas Müsli, ein Ei, Joghurt, Kaffee, Saft, - mehr ließ mein geschwächter Körper nicht zu - fuhr ich ins Büro. Ich wollte noch einige letzte Dinge regeln, bevor ich mich dem Arzt stellen würde. Nach dem Mittagessen verabschiedete ich mich von meinen Kollegen und Vorgesetzten und nahm ihre tröstenden Worte und wohlgemeinten Wünsche mit auf den Weg in die Arztpraxis.

"Na, was hat der Doktor gesagt?", erkundigte sich meine Frau, als ich soeben von der Urteilsverkündung nach Hause kam.
"Alles in Ordnung, nichts Besonderes...!". Ein halbherziger Beruhigungsversuch. Doch sie merkte, wie es wirklich um mich steht. Nach so vielen Ehejahren muss ich ihr nichts mehr erzählen, kann ich ihr nichts mehr vormachen: sie deutet die kleinste Veränderung in meiner Physiognomie richtig, liest in meinem Gesicht wie in< dem oft zitierten offenen Buch. "Was möchtest du heute Abend essen?", versuchte sie verzweifelt, abzulenken.
"Es gibt keine Medikamente gegen diese Grippeart!", stellte ich sie vor vollendete Tatsachen. "Selbst die stärksten, bekannten Antibiotika sind machtlos gegen diesen tückischen Virenstamm!", erklärte ich leise. Ich war den Tränen nahe, wollte mir aber nicht anmerken lassen, wie schlecht es mir tatsächlich ging. "Es ist noch etwas Erbsensuppe da, ich könnte ein paar Würstchen reintun und..." Ihr hilfloses Unterfangen, die Tatsachen zu ignorieren, wurde vom Klingeln des Telefons unterbrochen. Sabine, ihre Freundin. Ermattet ließ ich mich in meinem Sessel nieder, legte die Beine auf den Fußhocker und überlegte, ob die Lebensversicherungs- und Bankdokumente auf dem neuesten Stand sind. Schließlich sollte alles geregelt sein, wenn ich ...
"Jörg? Dem geht's gut!", hörte ich meine Frau aus dem Wintergarten ihre Freundin am Telefon anlügen. Arme Uta. Wie sie sich bemühte, tapfer zu sein, sich nichts anmerken zu lassen. "Einen kleinen Schnupfen hat er. Zweimal geniest - aber du weißt ja, wie die Männer sind. Gut, dass wir die Kinder kriegen..."



Seitenanfang

Eine Verwandlung

Er hatte ihn schon öfter gebissen oder gekratzt, nie bösartig - es geschah stets im übermütigen Spiel. Umso überraschter war Georg Samstag, als Karlsson ihn plötzlich und ohne erkennbaren Grund biss. Einfach so. Nein, wohl doch nicht "einfach so". Georg Samstag hatte seinem dicken schwarzen Kater die Beute abgenommen, die der ins Haus gebracht hatte. Es war eine Kohlmeise, genauer gesagt: das, was von ihr übrig war, nachdem der Kater sie gefangen und anschließend eine Weile im Garten mit ihr gespielt hatte. Mit einem Papiertaschentuch umwickelte Georg das streichholzdünne Vogelbein. Er hatte den Kadaver, wie schon die entseelten Körperchen vieler Mäuse, Vögel und auch Maulwürfe zuvor, als ein Geschenk seines Katers angenommen, hatte ihn dafür gelobt, und wollte die tote Meise im Garten verscharren. Als er die Leiche behutsam, so, als wolle er sie nicht im Schlaf stören, vom Teppich aufheben wollte, biss Karlsson zu. Es war nur eine kleine Verletzung im untersten Glied seines rechten Zeigefingers, die kaum blutete und nur wenig schmerzte. Dennoch erschrak Georg und blaffte Karlsson an: "Was soll das - spinnst du, Kalli?" Dessen Antwort war ein unentschlossenes Maunzen.

Am folgenden Morgen wurde Georg Samstag nicht von seinem Wecker sondern von einem dumpfen Pochen im rechten Zeigefinger geweckt. Er schaltete die Nachttischlampe ein; der Finger war geschwollen. Georg hatte die Wunde nach dem Biss mit Jod behandelt und ein kleines Pflaster aufgelegt. Früher hatte er das nie getan, wenn Karlsson mit seinen Krallen oder Zähnen die Haut seines Herrchens geritzt hatte. Aber Samstag wusste nicht so recht, was er von der Vogelgrippenaufregung und den mit ihr verknüpften Warnungen, mochten sie zum Teil auch noch so unsinnig klingen, halten sollte. Obwohl er den ganzen Rummel als ein kassenträchtiges Panikszenario der Medien ansah, hatte Georg sich doch, ohne lange zu überlegen, zu einer Wundbehandlung entschlossen. Schaden konnte es schließlich nicht, hatte er gedacht. Er nahm das Pflaster ab; die Wunde sah nicht sonderlich schlimm aus. Nur dass sich noch nicht, wie sonst üblich, Wundschorf gebildet hatte, wunderte ihn ein wenig. Er führte das auf das Jod zurück, pinselte die Verletzung erneut ein und legte ein frisches Pflaster auf.

Tagsüber spürte Georg das Pochen nur selten, seine Arbeit nahm ihn, wie immer, gefangen und lenkte ihn von der kleinen Verletzung ab. Am Abend, wieder daheim, besah er sich die Bissstelle. Immer noch kein Schorf - aber die kleine, offene Wunde war eingerahmt von winzigen weißen Haaren. Unter einer Lupe betrachtet sahen die Härchen allerdings eher wie Flaumfederchen aus.

Ein wenig unruhig war Samstag schon, als er das Pflaster am nächsten Morgen wieder entfernte. Die Schwellung war deutlich zurückgegangen und die Wunde nahezu geschlossen, doch die Federchen waren noch da, es waren sogar deutlich mehr als am Vorabend. Er nahm eine Pinzette und rupfte die Federn aus, eine nach der anderen. Es tat ein wenig weh, etwa so wie das Auszupfen lästiger Nasenhaare. "Das war's dann hoffentlich", seufzte er und verzichtete auf Jod, verpflasterte die Wunde jedoch erneut, aus kosmetischen Gründen, weil ihn sein Beruf mit vielen Menschen zusammenbrachte - und die Wunde, so klein sie auch war, sah nicht schön aus.

"Was haben Sie denn da gemacht?", fragte Kollege Jaeger, als er sich von Samstag verabschiedete und deutete dabei auf das Pflaster. Die beiden hatten den ganzen Nachmittag eine erforderliche Änderung an einem fast marktreifen Produkt ihres Unternehmens diskutiert. "Ach das - nichts weiter, eine kleine Meinungsverschiedenheit mit meinem Kater!", wiegelte Georg Samstag ab. "Sieht aber mehr nach einer Meinungsverschiedenheit mit einem Huhn aus!", sagte Herr Jaeger und lachte. In der Tat - unter dem Pflaster wucherten, jetzt auch ohne Lupe als solche zu erkennen, Federn hervor.

"Das ist ja interessant!", fand Frau Dr. Reimann-Johnson. Über den Rand ihrer randlosen Brille hinweg starrte sie fasziniert auf die Wunde und kratzte mit einem ärztlichen Instrument, dessen Bezeichnung Samstag nicht kannte, an den Federn herum. "Ich nehme eine Gewebeprobe aus der Haut, und ein Federchen dazu, das lasse ich untersuchen. In drei Tagen können sie anrufen und nach dem Ergebnis fragen!", wollte die Dermatologin die Untersuchung beenden. "Ja - aber … mir wachsen Federn! Da können Sie doch nicht einfach … es muss doch etwas … Medikamente, Salben … was weiß ich …", stammelte der Patient. "Meine Güte, nun stellen Sie sich mal nicht so an! Anderen Menschen wachsen Hühneraugen, Buckel oder Tumore! Dagegen sind doch so ein paar Federn gar nichts! Sie jucken nicht, sie drücken nicht, sie tun nicht weh, oder?" Diesem weiblich-ärztlichen Pragmatismus gab er sich geschlagen.

Drei Tage später war Georg Samstag sicher, überempfindlich reagiert zu haben. Die Wunde war fast geschlossen und es waren keine Federn mehr nachgewachsen, seit er sie nach dem Besuch bei Frau Dr. Reimann-Johnson ausgerupft hatte. Als er die kaum noch zu erkennende Verletzung an jenem Morgen untersuchte, kamen ihm allerdings seine Finger länger und seine Hände breiter vor. Jedoch tat er das als eine Gaukelei seines angespannten Geistes ab. Um sich in die Realität zurückzuholen, stieg er, wie sonst jeden Morgen auch, auf die Waage. Als er darauf stand und wartete, dass sich die digitalen Zahlen beruhigten (er hatte unwesentlich zugenommen), fielen ihm seine Füße auf - viel schmaler als noch am Tag zuvor schienen sie ihm zu sein. Zudem waren die Zehennägel über Nacht enorm gewachsen, und die Zehen waren gespreizt wie die Zinken einer Fächerharke. Als er seinen Pyjama auszog, um anschließend zu duschen, irritierte ihn ein kratzendes Geräusch und ein eigenartiges Gefühl in der Schulterpartie. Er wendete seinen nackten Rücken dem Badezimmerspiegel zu und schaute über die Schulter.

"Nun regen Sie sich doch nicht so auf!" Georg Samstag hatte auf die Dusche verzichtet und sofort in der Praxis angerufen. Die Dermatologin hatte gut Reden. Ihre Schulterblätter waren vermutlich nicht von langen weißen Federn überzogen. Ihre Hände, Arme, Beine und Füße nahmen, im Gegensatz zu seinen, nicht langsam aber deutlich die Form von Hühnerfüßen, -beinen und -flügeln an! Doch die Medizinerin nahm die Mitteilung über die Veränderung seiner Extremitäten medizinisch-gelassen hin. "Hühnerbeine - ja, das wundert mich nicht! Das Untersuchungsergebnis der Feder, die ich Ihnen abgenommen hatte, besagt eindeutig, dass es sich dabei um eine Hühnerfeder handelt!" "Ja, und nun? Was gedenken Sie zu tun?", fragte Georg Samstag mit unsicherer Stimme und war dabei sicher, keine befriedigende Antwort zu bekommen. "Ich weiß noch nicht genau …", gab die Ärztin zögernd zu. "Ich muss zunächst ein wenig in der Fachliteratur lesen, einige Internetrecherchen durchführen, den einen oder anderen Kollegen sprechen. Sie hören von mir!"

Schon am nächsten Tag wuchsen ihm die Federn zum Hemdkragen und aus den Hemdärmeln heraus. Er hatte es aufgegeben, sie auszurupfen. Zum einen war es sehr schmerzhaft, zum anderen zwecklos. Binnen Stunden wuchsen sie wieder nach. Natürlich meldete Georg sich in der Firma krank. In seinem Zustand konnte er unmöglich seiner Arbeit nachgehen. Er hoffte einfach, dass es sich um ein Virus oder was auch immer handelte, das diese Mutation ausgelöst hatte, und dass dieses Virus irgendwann sterben und Georgs Problem somit erledigt sein würde.

Samstag mochte nicht einmal mehr das Haus verlassen, unsicher und verängstigt wie er war. Zum Glück hatte er genug Nahrung und Getränke im Haus. Die Wurst, die noch im Kühlschrank lag, verfütterte er an Karlsson, denn auf Wurst, Fleisch und Käse hatte Georg gar keinen Appetit mehr. Stattdessen aß er lieber zu jeder Mahlzeit Müsli, Cornflakes oder Haferflocken, und davon hatte er Vorrat für mehrere Tage im Schrank.

Nachdem drei weitere Tage vergangen waren, ohne dass die Ärztin sich gemeldet hatte, rief er sie an. Es dauerte einige Minuten, bis die Sprechstundenhilfe ihn mit ihrer Chefin verbunden hatte. So angespannt war Georg Samstag, dass er während der kurzen Wartezeit vor Aufregung mit den Füßen, die in keine Schuhe mehr passten, scharrte, und so seinen Parkettboden stellenweise ruinierte. Als Frau Dr. Reimann-Johnson sich meldete, gab sie unumwunden zu, vor einem Rätsel zu stehen, bat ihn aber, er möge umgehend ihre Praxis oder das städtische Veterinäramt aufsuchen und sich auf H5N1 untersuchen lassen. Er versprach der Ärztin, ihrer Bitte nachzukommen.

Als Georg Samstag am nächsten Morgen aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Huhn verwandelt. Kopf, Rumpf und Arme waren bedeckt von einem dichten Federgewand, die Haut seiner nun dürren Beine war unbehaart und wächsern. Seine Zehen hatten sich zu Krallen verwachsen, von denen drei nach vorne und zwei nach hinten wiesen. Sein Kater Karlsson fauchte ihn an und verkroch sich unterm Sofa, als er das Riesenhuhn erblickte. Langsam betrat Georg Samstag das Badezimmer; ängstlich schaltete er die Spiegelbeleuchtung an. Was ihm der Spiegel zeigte, bestätigte die Befürchtungen, die das Abtasten seines Gesichtes mit den Flügelspitzen geweckt hatte. Unterkiefer und Nase waren gleich und extrem lang und liefen spitz zu. Wo sich vor wenigen Tagen noch dichtes schwarzes Haupthaar krauste, war ihm ein kleiner schlaffer roter Kamm gewachsen. Unterm Kinn hingen schlabberige Kehllappen, und Georg starrte sich selbst aus kalten, wimpernlosen Augen an.

Nach dem Frühstück, das er mühsam aus einer Haferflockenpackung gepickt hatte, setzte sich Georg auf die Toilette, um in Ruhe seinem Morgengeschäft nachzugehen. Schon oft waren ihm bei dieser entspannenden und entschlackenden Verrichtung gute Ideen gekommen, und eine gute Idee hinsichtlich seiner nächsten Zukunft brauchte er dringend. Seine Verdauung hatte stets äußerst verlässlich gearbeitet, und so war Georg erleichtert, dass seine Verwandlung zumindest daran nichts geändert hatte, wie er an seinem sich weitenden Anus und dem kurz darauf folgenden wohlvertrauten "Plumps" feststellen konnte. Als er sich von der Toilette erhob um zu spülen, sah er zu seiner Erschütterung, was er da hinein gelegt hatte. Nun war es Georg Samstag klar, dass er sich zu lange auf die unfähige Ärztin verlassen hatte. Er brauchte dringend Hilfe, und die konnte er, wenn überhaupt noch, nur außerhalb seines Hauses finden.

Der Versuch, sich anzukleiden, schlug fehl. Mit seinen Flügelspitzen konnte er keine Knöpfe knöpfen und keine Reißverschlüsse schließen. Es war ihm egal. "Dann gehe ich eben nackt!", dachte Georg und empfand es sogar als einen kleinen Vorteil seines Zustandes, dass er nun selbst unbekleidet nicht mehr nackt war. Georg vermochte nicht einmal mehr den Schlüssel umzudrehen und die Haustür zu öffnen. Weder mit seinen breit gefächerten Flügelspitzen noch mit seinem Schnabel konnte er die Tasten des Telefons drücken, die er hätte drücken müssen, um einen Kollegen, die Tiermedizinische Hochschule oder seine Mutter anzurufen. Doch selbst wenn er die richtigen Tasten hätte drücken können - wie hätte er den Hörer aufnehmen sollen?

Georg Samstag sah nur noch eine Möglichkeit, um auf sich aufmerksam zu machen und Beistand herbeizuholen. Er musste ein Fenster öffnen und um Hilfe rufen, und sei es noch so unangenehm. Aber wie sollte er denn ein Fenster öffnen? Wohnzimmerfenster, Küchenfenster und auch das Fenster in seinem Arbeitszimmer waren fest verschlossen. Schon der Verzweiflung nahe, fiel ihm sein Schlafzimmerfenster ein, das, wenn er daheim war, immer einen Spalt geöffnet blieb. Einen Spalt nur, aber der könnte ausreichen, dachte Georg. Er stieg die schmale Treppe ins Obergeschoß seines Reihenhauses empor. Im Schlafzimmer angekommen sah er, dass er sich nicht geirrt hatte! Ein Flügel des Fensters war eine Handbreit geöffnet und wurde von einem am Fensterrahmen befestigten Haken daran gehindert, sich weiter als nur diesen kleinen Spalt zu öffnen.

Es bereitete ihm kaum Schwierigkeiten, mit seiner Schnabelspitze den Haken aus der Öse zu heben und das Fenster mit einem Kopfstoß weit zu öffnen. Durch das noch dünne Grün einiger Bäume und Büsche hindurch konnte er den Bürgersteig und einzelne Passanten erkennen. Gerettet. Georg Samstag holte tief Luft und rief zum Fenster hinaus, so laut er konnte: "Tooorck! Torck - Torck - Tooorck! Tooorck!"



Seitenanfang

Immer da

Ich bin immer da. Morgens der Erste, abends der Letzte. Die anderen kennen das schon. "Na - bist du schon wieder da?", fragen sie, wenn sie morgens früh kommen und mich sehen. Oder auch: "Warst du die ganze Nacht hier?" Sie können noch so früh kommen - ich bin stets vor ihnen da. Und: "Bleibst du noch lange?", fragen sie, wenn sie abends gehen und sehen, dass ich keine Anstalten mache, es ihnen nachzutun. Natürlich erwarten sie auf ihre Frage keine Antwort. Sie wissen, dass ich immer da bin.

Einmal, ein einziges Mal war ich nicht da, als morgens früh die Ersten kamen. Der Grund meiner Verspätung war ein mir äußerst peinlicher, daher bitte ich, nicht auf die Frage nach dem "Warum" zu bestehen. Selbstverständlich war das Erstaunen der anderen über mein Ausbleiben enorm. Welch eine Aufregung schlug mir entgegen, als ich kam, und schon einige da waren - einige zwar, doch nicht alle. "Wo warst du? Was hast du getan? Was ist geschehen? Wir waren in Sorge!", so und ähnlich klang es, als sie mich förmlich bestürmten. Und ich glaubte ihnen, ich glaubte ihnen ihre Bestürzung über etwas, das keiner von ihnen je erlebt hatte, in all den Jahren, die sie mich kannten. Mehr noch: selbst von denen, die mich von Anfang an kennen, konnte sich keiner entsinnen, jemals gekommen zu sein, ohne mich bereits vorzufinden. Ich bat sie, nicht nach dem Grund meiner Verspätung zu fragen, nach der Verspätung, die ja eigentlich gar keine war - zwingt mich doch nichts und niemand dazu, morgens der Erste und abends der Letzte zu sein. Das respektierten sie. Nur manchmal, an jenem unseligen Tag, und an den darauffolgenden Tagen noch, sah ich den einen oder die andere gelegentlich den Kopf schütteln und zu mir herübersehen, lächelnd, immer noch nicht fassend, was kurz zuvor geschehen war. Einige Tage nur, dann hatten sie jenen Morgen vergessen, und ich versuchte, es ihnen gleichzutun.

Man respektiert mich. Manchmal denke ich, sie sind froh, dass ich stets da bin. Schließlich: Auf was ist denn noch Verlass? Da ist ein Mensch dankbar, wenn es etwas gibt, dessen er sicher sein kann, das ihm Gewissheit gibt - wofür auch immer. Meiner Verantwortung, die aus meinem Verhalten erwachsen ist, bin ich mir bewusst. Das erste, was die Neuen erfahren, wenn sie zu uns kommen, ist, dass ich immer da bin. So gebe ich besonders der Jugend einen Halt in diesen unsicheren Zeiten, gebe ihnen etwas, das sie in Elternhaus und Schule kaum kennengelernt haben. Und dafür respektieren und achten mich schnell auch die Jungen und die Neuen, das spüre ich. Und niemand erzählt ihnen, den Nachwachsenden, von jenem unsäglichen Tag. So wird irgendwann niemand mehr da sein, der sich dieses schwarzen Tages entsinnen kann. Nur ich, ich werde da sein, morgens als Erster und abends als Letzter. Tag für Tag und Jahr für Jahr. Denn ich: Bin immer da.



Seitenanfang

Schmutziger Sex

Gestern in der Frühe forderte ein Rundfunksender dazu auf, in 10 Minuten alle Uhren, die nicht mehr gingen, und seien sie auch noch so alt und schon noch so lange nicht mehr im Betrieb, ans Radio zu halten, wo sie dann Uri Geller, der berühmte israelische Fernmechaniker, kraft seiner Gedanken wieder in Betrieb setzen würde. Während im Radio die Werbung immer wieder von "Deutschlands lustigster Morgenshow" unterbrochen wurde, suchte ich jene Armbanduhr, die ich vor gut zwei Jahren bei Tchibo gekauft und die dann auch wenige Tage nach Ablauf der Garantie ihren Betrieb eingestellt hatte. Ich fand und hielt sie ans Radio, denn ich wollte der erste Hörer sein, dem der Geller die Uhr repariert, bevor ihn die Kraft verlässt! Und dann kam er auch, der Uri, und dachte und dachte und dachte, und dann rief eine hysterische Frau beim Sender an und war ganz außer sich, weil die alte Armeeuhr ihres Großvaters selig, die ihrem Opa mal das Leben gerettet hatte, als eine Kugel vom Russen drin stecken geblieben war, und so nicht des Großvaters Pulsader zerfetzt hatte, und er, der Großvater, noch eine Weile aufräumen konnte in der Welt, bevor ihn dann doch noch … Aber da würgte der lustigste deutsche Radiomoderator die Hysterikerin ab und sagte nur, ja, und das sei total supi und überhaupt ein Wahnsinn!, und ich schaute auf meine Tchibouhr und stellte fest, dass sie immer noch nicht funktionierte. So ging ich dann anschließend zum hiesigen Uhrmacher und hab eine neue Batterie einsetzen lassen.

Auf dem Weg zurück vom Uhrmacher erinnerte ich mich einiger saftiger Ohrfeigen, die ich vor Ewigkeiten daheim von meinem Vater, meiner Mutter und einem zufällig anwesenden Versicherungsvertreter bekommen hatte. Grund dafür war eine Beichte. Ich beichtete meinen Eltern, dass meine Armbanduhr Wasser abbekommen und den Geist aufgegeben hatte. Die Uhr war ein Weihnachtsgeschenk meiner Eltern und nicht wasserdicht. Letzteres hatte sich - ohne dass ich den Beweis erbringen wollte - erwiesen, als Jochen, Hubert und ich einen Wettkampf mit unseren Haustieren austrugen. Jochen mit seinem Kätzchen "Sibylle", Hubert mit "Berti", seinem Goldhamster, und ich, der ich kein eigenes hatte, mit "Pucki", der Schildkröte meiner Schwester. Wir tauchten die Tiere nacheinander in ein randvolles Regenfass und stoppten die Zeit, bis keine Blasen mehr kamen. Pucki - und somit ich - war der klare Sieger. Dummerweise hatte ich die Schildkröte mit der linken Hand untergetaucht und nicht an das Weihnachtsgeschenk meiner Eltern gedacht. Jahre später wurde der Versicherungsvertreter - der aus geschäftlichen Gründen zugeschlagen hatte, um Solidarität mit meinen Eltern zu bekunden und so einen kippligen Vertragsabschluss zu sichern - mein Schwiegervater. Seine Tochter Ulrike und ich waren viele Jahre verheiratet. Dann verließ Ulrike mich. Unsere Beziehung war langweilig und blieb kinderlos. Leider hatten wir auch keinen schmutzigen Sex, über den ich berichten könnte.

Seitenanfang